Unterirdisch Gut

Rezension zu “Lycidas” von Christoph Marzi

Inhalt

Lycidas erzählt die Geschichte des Waisenkinds Emily Laing. Emily hat vor Jahren bei einem Unfall ein Auge verloren und kann ihrem noch Intakten nicht glauben, als sie eines Tages die Ratte „Lord Brewster“ anspricht. Diese erteilt ihr den Auftrag auf die kleine Mara aufzupassen, welche in der folgenden Nacht entführt wird.

Zusammen mit ihrer besten Freundin Aurora flieht Emily und trifft kurz darauf auf den Alchemisten Mortimer Wittgenstein. Zusammen mit ihm werden Emily und Aurora in ein Abenteuer verwickelt, in dessen Zentrum die „uralte Metropole“ steht.

Unterhalb Londons existiert eine zweite Stadt, in der sich Elfen, Irrlichter und gefallene Engel aufhalten. Eben ein solcher Engel ist der erste Gegenspieler Emily Laings. Lucifer, Satan oder „Lycidas“, wie er sich neuerdings nennt, steht hinter der Entführung der kleinen Mara. Zusammen mit Wittgenstein, Aurora, dem Elfen Maurice Mickelwhite sowie dem Irrlicht Dinsdale durchstreift Emily die „uralte Metropole“ um eine Spur der kleinen Mara zu finden. Dabei entdeckt Emily ihre Gabe als „Trickser“, welche es ihr ermöglicht die Gedanken anderer zu spüren – zu Mara scheint sie ein besonderes Band zu haben. Sie erkennt, dass in der uralten Metropole viele Sagen und Märchen der Menschheit Realität geworden sind und dass die Herrscher der Stadt nicht nur ihr Leben sondern auch den Alltag in London stark beeinflussen.

Rezension

Es gibt zwei Arten mit der Bahn durch Deutschland zu reisen. Die langsame Regionalbahn, bei der man aus Fenster sehen kann und die Schönheit der Landschaft erkennt, und den schnellen ICE bei dem ein Blick aus dem Fenster nicht lohnenswert erscheint.

Christoph Marzis Erstlingswerk ist eine literarische Regionalbahn. Der Autor lässt sich viel Zeit, um mit der Geschichte zu beginnen, beleuchtet erst einmal den biographischen Hintergrund und das Seelenleben seiner Protagonisten. Das Ganze macht er so gut, dass man sich die Geschichten von Emily Laing, Aurora Fritzrovia, Wittgenstein und wie sie alle heißen gerne durchliest und keinerlei Sehnsucht nach einer Beschleunigung verspürt.

Die Spannung bleibt immer, was daran liegt, dass Marzi die Geschichte in eine sehr geschickte Narration verpackt. Das Buch teilt sich in drei Teile, die alle einem Rekonstruktionsmuster folgen. Zu Beginn eines Teils erfährt man zum Teil wie es ausgeht – zumeist die Tatsache, dass etwas Schlimmes passiert ist. „Die Welt ist gierig, und manchmal verschlingt sie kleine Kinder mit Haut und Haaren“, ist oftmals der einleitende Satz, nach dem man sich fragt, wer verschlungen wurde und wie es dazu gekommen ist. Immer wieder kommt es zu überraschenden Wendungen. Das Bild, das sich der Leser von der Situation und den Figuren gemacht hat, bedarf fortwährender Rekonstruktion.

Die Geschichte die Marzi entwirft ist sehr interessant und schön phantastisch. Unterhalb Londons existiert eine zweite Stadt, in der sich nicht nur Elfen und Irrlichter tummeln, sondern auch Sagen und Märchen sich als Realität erweisen. So duellieren sich gefallene Götter mit Spinnen, Aphrodite und Golems bedrohen London und der Teufel höchstpersönlich zieht die Fäden im Hintergrund.

Die Uralte Metropole ist die Manifestation von Sagen und Mythen – kurzum: von menschlicher Kultur. Marzi entwirft eine Geschichte, in der er Unmengen dieser Geschichten miteinander verbindet. Die Schöpfungsgeschichte, ägyptischer Götterglaube, die Sage vom Heiligen Gral, der Rattenfänger von Hameln und auch Jack the Ripper werden zu einem in sich logischen Zusammenhang verbunden. In dieser Form einmalig und einfach nur Gut. Es macht einfach Spaß das Buch zu lesen.

Eines ist Lycidas jedoch nicht. Es ist kein Epos wie „Herr der Ringe“, kein Buch über Armeen die Gegeneinander kämpfen. In Lycidas geht es nicht um Könige und Helden – es geht um Menschen. Diese und ihr Schicksal stehen im Vordergrund. Marzi legt sehr viel Wert auf die Charakterisierung der Figuren und Klärung ihrer Beziehung zu einander und löst diese Aufgabe mit Bravour. Die Handlungen der Figuren lassen sich aus ihrem Charakter heraus erklären.

Gut charakterisierte Figuren weisen viele Graustufen anstatt einer Schachbrett-Moral auf. Und dies spürt man im ganzen Roman. „Die Welt ist gierig, und manchmal verschlingt sie kleine Kinder mit Haut und Haaren.“ Die Welt ist gierig, niemand ist rein gut oder rein böse. Die einzige Ausnahme von dieser Regel stellen in Marzis Roman die Kinder da. Die 12-jährige Emily Laing muss zusammen mit ihrer besten Freundin Aurora erkunden, wem sie trauen kann und wem nicht. Sie muss erkennen, dass die „Bösen“ manchmal nur das kleinere Übel sind, und dass die „Guten“ recht skrupellos handeln. Es gibt viele Graustufen in Lycidas – und das ist gut so.

Generell empfiehlt es sich, das Buch zu lesen. Ich habe mich über 800 Seiten eigentlich nie gelangweilt. Jedoch gibt es einige kleine Schwächen, auf die hingewiesen werden muss.

  1. Präsens o Präsens
    Es scheint ein modernes Stilmittel zu sein, innerhalb einer Erzählung zur Hervorhebung einer Passage, das Präsens zu verwenden. Christoph Marzi tut dies immer bei Ortsbeschreibungen und beim Finale eines Abschnittes, was ich als Stilbruch sehe. Das ist sicherlich eine Frage des Geschmacks, aber mir hätte das Präteritum besser gefallen. Einfach mit der Begründung, dass auch die hervorgehobenen Passagen Bestandteil der Erzählung Wittgensteins sind und noch in der Vergangenheit liegen. Ebenso verhält es sich mit den Ortsbeschreibungen. Marzi beschreibt sehr intensiv wie Emily den Ort erlebt hat, was auch eine Erfahrung ist, die noch in der Vergangenheit liegt.
  2. Wiederholungen
    Gerade am Anfang des Romans finden sich oftmals Wiederholungen. So wird die Geschichte der Kindheit von Wittgenstein innerhalb von 4 Seiten zweimal erzählt, ohne dass die zweite Version viel mehr berichten würde. Das ganze legt sich gegen Ende des Buches.
  3. Zeit
    Irgendwas stimmt mit den zeitlichen Abständen nicht. Die Begründung „mit der Zeit ist es so eine Sache in der uralten Metropole“ überzeugt mich nicht richtig – denn auch im „normalen London“ habe ich das Gefühl, das es manchmal nicht so ganz hinhaut. Es wäre schön einen Grund für diese Tatsache zu erfahren. Aber es gibt ja noch zwei Fortsetzungen.
  4. Die Schwierigkeit ein Ende zu schreiben
    Das meiner Meinung nach größte Manko von Lycidas sind die Enden der einzelnen Abschnitte. Die ganze Geschichte ist schön erzählt, nur das Ende wirkt etwas überstürzt, teilweise sogar banal mit den Zügen eines Deus ex Machina. Der Leser ist voller Spannung, um dann eine banale Lösung präsentiert zu bekommen. Insbesondere das Happy End des letzten Teils wirkt auf mich sehr stark konstruiert, und das einzige Mal im Roman hatte ich das Gefühl, dass der Zwang ein schönes Ende zu schreiben, über der inneren Handlungslogik der Figuren stand.

Fazit

Lycidas erzählt eine sehr schöne, phantastische Geschichte, die insbesondere durch die Verknüpfung von Sagen und Mythen sowie durch gute Charakterisierungen besticht. Bei den Schwächen stört insbesondere das schwache Ende.

GUT+ (1,7)

Bibliographische Daten

Christoph Marzi: Lycidas.
Heyne, 2004, 861 Seiten, Trade-Paperback.
ISBN: 978-3453530065

Informationen

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2 Antworten zu “Unterirdisch Gut”

1 07 2007
Günther Drach (16:33:30) :

Allein von der Beschriebung her kommt es mir vor, als hätte sich Marzi doch ziemlich von Neil Gaimans “Neverwhere”/”Niemalsland” inspirieren lassen. Eventuell auch von dessen Sandman-Comics, die auf unnachahmliche Weise Märchen, Mythen, Sagen und historische Persönlichkeiten verquicken.
Hmm. Scheint, den Amazon-Rezis zufolge bin ich nicht der einzige, dem das auffällt. Wohl doch nicht so einmalig.

3 07 2007
Wolfgang Ruge (15:18:23) :

Hallo Günther,
danke erstmal dafür, dass du mit gutem Beispiel vorangehst und die Kommentar-Funktion nutzt.

Dein Posting ist sicherlich Anlass, sich einmal mit Niemalsland zu beschäftigen und den Roman kritisch zu würdigen.
Jedoch kann das aufgrund eines relativ großen Lesestapels noch etwas dauern.

Auf eine Rezension zu einem Gaiman-Roman kann ich an dieser Stelle jedoch hinweisen, um (hoffentlich) die Spannung zu schüren. In den nächsten Wochen werden wir in diesem Blog “Coraline” besprechen.




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